3. Unter Slawen: von Burgen und versunkenen Städte

3. Vineta oder das Geheimnis versunkener Städte

Der legendäre Tempelort Rethra
In der Spätantike verschlechtert sich das Klima für die Landwirtschaft in Mitteleuropa, immer mehr Menschen flüchten während der so genannten „Völkerwanderung“ nach Süden. Als slawische Stämme ab dem 7. Jahrhundert in die Gebiete der südlichen Ostsee einwandern, ist das Land der Sümpfe und Wälder dünn besiedelt. Ihre Hütten bauen sie aus Weidengeflecht oder Lehm, ihre Tempel aus Holz. Riesige Burgwälle schützen die Menschen vor feindlichen Kriegern. Ein Bischoff, Thietmar von Merseburg, malt sich aus christlicher Perspektive Anfang des 11. Jahrhunderts den heute verschwundenen legendären Tempelort Rethra und die heiligen Zeremonien der „heidnischen“ Stämme aus, die als „Wenden“ bezeichnet wurden:

„In der Burg befindet sich nur ein kunstfertig errichtetes, hölzernes Heiligtum, das auf einem Fundament aus Hörnern verschiedenartiger Tiere steht. Außen schmücken seine Wände prächtig geschnitzte Bilder von Göttern und Göttinnen. Innen aber stehen von Menschenhänden gemachte Götter, jeder mit eingeschnitztem Namen; Furcht erregend sind sie mit Helmen und Panzern bekleidet. Wenn man sich dort zum Opfer für die Götzen oder zur Sühnung ihres Zorns versammelt, dürfen die Priester sitzen, während alle anderen stehen. Geheimnisvoll murmeln sie zusammen, während sie zitternd die Erde aufgraben, um dort durch Loswurf Gewissheit über fragliche Dinge zu erlangen. Dann bedecken sie die Lose mit grünem Rasen, stecken zwei Lanzenspitzen kreuzweise in die Erde und führen in demütiger Ergebenheit ein Ross darüber, das als das größte unter ihnen für heilig gehalten wird.
Thietmar von Merseburg: Chronik 1012–1018

Die Mecklenburg der Obotriten-Herrscher
4 Jahrhunderte lang ringen die mächtigen Nachbarn, die Franken und Sachsen, Dänen und Polen, um die Vorherrschaft über die südliche Ostseeküste, mit ihrer wertvollen Fernhandelsroute. Die Stammesfürsten der Slawen leisten erbitterten Widerstand. Nördlich des Schweriner Sees residiert der Herrscher der Obotriten in königlicher Pracht auf seinem Hauptsitz, der Mecklenburg, über ein Reich von Ostholstein bis zur Oder. Mecklenburg heißt „Große Burg“, sie gibt dem westlichen Landesteil ihren Namen. „Pommern“ bedeutet „Land am Meer“.

Fernhandelsplätze
An den Wasserstraßen blüht der Handel. In Rerik an der Wismarer Bucht, Dierkow an der Warnowmündung, Ralswiek auf Rügen, Menzlin an der Peene und in Wollin an der Odermündung wachsen die Fernhandelsplätze internationaler Kaufleute heran: die Keimzellen der mittelalterlichen Städte. Hier fanden Archäologen skandinavische Schmuckstücke und sogar arabische und persische Münzen.

Die „größte Stadt Europas“: Vineta
Der bedeutendste Handelsplatz jedoch hat sein Geheimnis bis heute bewahrt. Mittelalterliche Chronisten berichten von der „größten Stadt Europas“ an der Ostsee: Vineta, das Venedig des Nordens. Bis heute rätseln die Wissenschaftler, wo die Stadt in Vorpommern gelegen hat. Einige Forscher vermuten, dass sie bei einem Feldzug der Dänen 1130 geflutet wurde, indem die Deiche von Oder und Ostsee zerstört wurden. Die überlieferte Sage schmückt die historischen Fakten aus:

„Je mehr Reichtum in Vineta Einzug hielt, desto mehr verfielen die Bewohner aber auch dem Hochmut und der Verschwendung. Bei den Mahlzeiten aßen sie nur die auserlesensten Speisen, und Wein tranken sie aus Bechern von purem Silber oder Gold. Ebenso beschlugen sie die Hufe ihrer Pferde nur mit Silber oder Gold anstatt mit Eisen und ließen selbst die Schweine aus goldenen Trögen fressen. Und Löcher in den Häuserwenden verstopften sie mit Brot oder Semmeln.

Drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor dem Untergang der Stadt erschien sie über dem Meer mit allen Häusern, Türmen und Mauern als ein deutliches, farbiges Luftgebilde. Darauf rieten alte, erfahrene Einwohner allen Leuten, die Stadt zu verlassen, denn sähe man Städte, Schiffe oder Menschen doppelt, so bedeute das immer den sicheren Untergang. Aber man gab nichts auf diese Warnungen und verlachte sie nur. Einige Wochen danach tauchte eine Wasserfrau dicht vor der Stadt aus dem Meer und rief dreimal mit hoher, schauerlicher Stimme, dass es laut in den Straßen widerhallte:
"Vineta, Vineta, du rieke Stadt,
Vineta sall unnergahn,
wieldeß se het väl Böses dahn"

Auch darum kümmerte sich keiner, alle lebten weiter in Saus und Braus, bis sie das Strafgericht ereilte. In einer stürmischen Novembernacht brach eine furchtbare Sturmflut über die Stadt herein. Im Nu durcheilte der riesige Wogenschwall die Straßen und Gassen. Das Wasser stieg und stieg, bis es alle Häuser und Menschen unter sich begrub.“
Klaus Goldmann/Günter Wermusch: Vineta, Bergisch Gladbach 2002, S. 42

© Corinna Hesse, Silberfuchs-Verlag, Tüschow/MV 2014, Nachdruck nur mit Genehmigung der Verfasserin,
Kontakt: corinna.hesse@silberfuchs-verlag.de

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Illustration: Bettina Schulz